Leseprobe: Wo die Puszta den Himmel berührt

Auf Umwegen durch Ungarn

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Auf Umwegen durch Ungarn

Fast hätte Bertha verschlafen, und das an ihrem großen Tag. Beleidigt kräht der Hahn bereits zum dritten Mal und die Sonne lugt besorgt über die Berghänge im Nordosten. Bertha zieht ihr schickstes schmutziges Kleid aus dem Schrank und schlurft ins Bad, um sich frisch zu machen. Länger als sonst bleibt sie unter der eiskalten Dusche, dann schrubbt sie mit einer großen Bürste den Rücken entlang und kämmt sich die wirren Haare aus dem Gesicht. Sie schlüpft in das Kleid, blickt in den Wandspiegel über dem Waschbecken und nickt zufrieden. Ein altes Gesicht blickt ihr entgegen, doch die dunkelblauen Augen senden neugierige, zuweilen fast schelmische Blicke aus. Berthas Haut ist gezeichnet von der täglichen Arbeit. Das ständige Zudrücken und Öffnen der kleinen Gartenschere hat Schwielen in ihre rechte Hand gesetzt. Vom täglichen Unkrautjäten sind ihre Hände hart geworden. Mittlerweile jedoch ist sie sogar ein bisschen stolz auf ihr Aussehen, und wenn sie in den Spiegel blickt, sieht sie eine vierundsechzigjährige Frau, deren dunkelbraune Haarpracht zwar von grauen Strähnen durchzogen wird, die aber insgesamt durchaus einen rüstigen und kraftvollen Eindruck macht. Die Falten in ihrem Gesicht nennt Bertha mittlerweile Lebenslinien. »Es tut mir leid, Bertha, aber dafür bin ich nicht zuständig«, hat ihr György vor einer Woche beim Mittagessen gesagt, um ihr dann fest in die Augen zu blicken, während auf seiner Stirn zwei Falten erschienen: »Um deine Rente zu beantragen, musst du nach Budapest gehen.«…

»Jetzt bist du schon zum siebten Mal in Ungarn und noch immer hast du den Wortschatz eines Dreijährigen«, flötet Maria mir entgegen, nachdem ich erfolglos versucht habe, meine Ungarischkenntnisse bei unserer Gastgeberin anzubringen. Ez tetzik – »Das gefällt mir« – bekomme ich ganz gut hin, Az étel kitünö volt – »Das Essen war ausgezeichnet« –, ist manchmal verständlich, wenn ich es ausspreche und egy egyágyas szobát fürdöszobával – »ein Zimmer mit Bad« –, klingt bei mir wie Mandarinchinesisch mit einem besonders seltenen türkischen Akzent. Maria versteht es auf einzigartige Weise, derbe Wahrheiten mit sanfter Stimme an den Mann zu bringen. Meine hilflosen Versuche, ungarische Worte auszusprechen, werden mit Missbilligung quittiert. Im Grunde genommen hat meine liebenswürdige Kritikerin ja recht. Noch immer klingt für mich Tee (tea, etwa ausgesprochen wie »tejo«, aber eben nur fast) wie Milch (tej, etwa ausgesprochen wie – genau: fast wie »tejo«, aber mit einer hauchdünnen Verschiebung der Betonung auf dem »j«), und wenn ich nicht aufpasse, verwechsle ich Worte wie Wein (bor) und Staub (por) oder Bohne (bap) und Pfarrer (pap), die ich eigentlich auseinanderhalten müsste, um nicht für spontane Heiterkeitsausbrüche meines Gegenübers verantwortlich zu sein. Über zehn hinaus kann ich auf Ungarisch noch immer nicht zählen. Zu meiner Ehrenrettung kann ich allerdings anführen, dass die ungarische Sprache wohl zu den schwierigsten der Welt gehören dürfte. Das fängt schon damit an, dass es außer rudimentärer Ähnlichkeit mit dem Finnischen, was mir übrigens herzlich wenig nützt, keine Verwandtschaft zu anderen Sprachen gibt. Worte wie »Restaurant «, »Hotel« oder »Polizei«, die sinnvollerweise in fast allen europäischen Sprachen ähnlich klingen, werden im Ungarischen zu fremdartigen Ungetümen wie étterem, szálloda und rendörség. Nicht einmal für das eigene Land, welches auf Deutsch (»Ungarn«), Englisch (»Hungary«), Französisch (»Hongrie«) und einem Dutzend weiterer Sprachen ähnlich lautet, gibt es eine ungarische Entsprechung: Magyarország, »Land der Magyaren «, nennen die Ungarn ihr Land – da bleibt Ausländern wie mir die Paprikaschote im Halse stecken.

Ein kerniger, wahrhaftiger Charakter und eine leicht gedämpfte Stimmung zeichnen viele Städte zwischen Estland und Malta aus. Während westliche Metropolen wie Paris oder London die Gegenwart als rauschendes Fest zelebrieren und die Leichtigkeit der Jugend den Takt vorgibt, sind östlicher gelegene Städte wie Budapest und Prag vergleichsweise bodenständig und unaufgeregt. Generell ist hier die Erwartungshaltung weniger ausgeprägt, diese Annahme, dass im nächsten Augenblick etwas Großes, Außergewöhnliches passieren muss. Vielleicht liegt das daran, dass in Ländern wie Ungarn die Werbung westlicher Prägung viel später Einzug gehalten hat, die uns permanent vorgaukelt, dass alles leicht, witzig und schnell zu sein hat, und in der makellose Schönheiten uns erklären, dass bereits das Frühstück ein »einmaliges Knuspererlebnis« ist.

Wenn jede Weltstadt ein ganz bestimmtes Antlitz hat, an das man sich immer erinnern wird, sobald man es gefunden hat – in Paris der Blick über die Champs-Elysées bis zum Eiffelturm, der vom Trocadéro-Gebäude halbkreisförmig umrahmt wird, pompös und meisterhaft in Szene gesetzt; in New York der Blick vom Empire State Building die Wolkenkratzer und Häuserschluchten entlang, in denen die gelben Taxis wie kleine Punkte erscheinen; gigantisch, größenwahnsinnig und immer nur einen Schritt vom Abgrund entfernt –, wenn man also das Gefühl hat, von einem gewissen Punkt aus einer Stadt direkt in die Augen zu blicken, und wenn einem schlagartig die Einzigartigkeit dessen bewusst wird, das sich vor diesem Blick ausbreitet, dann ist dieser Punkt in Budapest der Gipfel des Gellért-Berges, abends, wenn das Burgviertel im Norden effektvoll in die Dunkelheit strahlt und die Häuser, die Straßen und Plätze von Pest durch tausend Lichtpunkte neu erglänzen, während die Donau einen dunklen Streifen durch die Stadt zieht. Poetisch, still und eine Spur melancholisch, so wie alles Schöne in Wahrheit immer nur dann wirklich schön ist, wenn eine Spur Traurigkeit mitschwingt. Budapest hat ein Gesicht, in das man sich schnell verliebt.

Wer weiß schon, dass es Ungarn waren, die den Hubschrauber, den Kugelschreiber und das Streichholz erfanden? Dass unter anderem Hollywood-Star Tony Curtis, Theodor Herzl, der wesentlich zur Gründung Israels beigetragen hat, Bestsellerautor Ephraim Kishon ebenso wie Franz Liszt aus Ungarn stammen? Dass allein in Budapest einhundertdreiundzwanzig Thermalquellen täglich siebzig Millionen Liter heißes, heilsames Wasser an die Oberfläche sprudeln und dass es in Ungarn einen sechsunddreißig Grad warmen, natürlichen See gibt? Dass die Ungarn die erhalten gebliebene rechte Hand ihres ersten Königs in der »Kapelle der heiligen rechten Hand« in Budapest aufbewahren? Dass dort zudem die Statue eines rätselhaften Hofschreibers steht, dessen Gesicht man nicht erkennen kann? Dass ein Fünftel der Ungarn nicht in ihrem Land leben und dass die Ungarn offensichtlich Vergnügen daran finden, ihre Städte Bugyi (Unterhose), Hatvan (Sechzig) oder Galambok (Tauben) zu nennen? Andere Städte heißen Cserszegtomajederics oder Hódmezövásárhely.

Auf dem Széchenyi-Platz, dessen Brunnen der Segen spendenden und zerstörerischen Theiß durch allegorische Darstellungen ein Denkmal setzt, steuern wir eine Bank an und ich beschließe, meine Gastfamilie anzurufen, in der ich damals, als ich in Ungarn Schwimmwettkämpfe und Trainingslager absolvierte, dreimal Unterschlupf gefunden habe. Das war vor achtzehn Jahren, noch vor der politischen Wende von 1989/90 und ein wenig mulmig ist mir schon. Werden mich meine damaligen Gasteltern überhaupt wieder erkennen? Wie leben sie mittlerweile und was ist aus ihrem Sohn Peter geworden, der damals auch im Schwimmverein war? Wie wird die Familie reagieren, wenn ich sie eines schönen Spätnachmittags aus heiterem Himmel anrufe, nachdem wir uns in den vergangenen achtzehn Jahren nicht gesehen haben und nur etwa alle fünf bis acht Jahre ein kurzer Briefwechsel stattgefunden hat? »Jó napot tesék ki az« (»Guten Tag, wer ist da, bitte«), tönt mir aus dem Telefonhörer entgegen, wie mir Maria später erklären wird – ich verstehe vorerst nur etwas, das wie »Pott Tee schenkt Chaos« klingt. Passenderweise hört meine Gastfamilie auf den Namen Rausch. »Ähm ja, also hier ist Thomas Bauer, wie läuft’s denn so?« beginne ich einigermaßen dämlich, weil mir der Chaos schenkende Tee nicht aus dem Kopf geht. »Ist schon ne ganze Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie geht’s Peti zurzeit?« Einige Sekunden lang kommt nur ein entferntes Atmen aus dem Kopfhörer und ich kann förmlich mithören, wie Lászlo, Peters Vater, in seiner Erinnerung kramt. Wie er die Jahre zurückblättert, bis er auf einen kleinen Jungen trifft, der damals zum Frühstück immer Kakao wollte und der seinen Fahrstil so toll fand. »Tomas, wirr frreun uns so! Du bist in Ungarrn? Du musst kommen uns besuchen – wirr machen dirr Mittagessen, Pörkölt mit saurre Gurrken! Wirr rreden überr alte Zeiten, igén?!« Schon immer bin ich von Lászlos Akzent begeistert gewesen – auch wenn er mir damals nicht so stark vorkam wie heute. Vor allem die stakkatoartig kurzen Vokale und das gerollte »r« bringen Feuer in seine Rede. Als er hört, dass Marias Eltern aus Ungarn kommen, ist er restlos begeistert. »Morrgen drreizehn Urr, wirr warrten dirr!«, verspricht er mir am Ende unseres Telefonats.

Thomas Bauer: Wo die Puszta den Himmel berührt - Auf Umwegen durch Ungarn

Erschienen 2006 im Herbig Verlag

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Über das Buch

Eine liebenswürdige Hommage an die Eigenheiten Ungarns - und an die Bewohner eines facettenreichen Landes mit tausendjähriger Geschichte.

Obwohl Ungarn eines unserer beliebtesten Reiseziele und geografisch, kulturell und wirtschaftlich eng mit Deutschland verknüpft ist, kennen wir meistens nur die touristischen Höhepunkte Budapests und den berühmten Plattensee. Doch das Land hat sehr viel mehr zu bieten.

Ungarnkenner Thomas Bauer hat eine liebenswürdige Hommage an das Land der Magyaren, an seine Eigenheiten und an seine Bewohner geschrieben. Unterwegs mit seiner ungarischen Lebensgefährtin bereist er nicht nur Touristenattraktionen wie die Fischerbastei oder die Therme in Budapest. Auf seinen »Umwegen« entdeckt er auch abgelegene Gegenden, unbekannte Sehenswürdigkeiten wie den Stelenpark bei Mohács, und nicht zuletzt besondere Menschen.

In seinem vor Wortwitz sprühenden Bericht unternimmt Thomas Bauer einen Streifzug durch die ungarische Literatur und bringt bedeutende ungarische Erfindungen wie den Hubschrauber oder den Kugelschreiber zur Sprache. Auf charmant-witzige Weise schafft er es, fast nebenbei die über tausendjährige Geschichte Ungarns lebendig werden zu lassen und in die »Feinheiten« der Sprache einzuführen, die jeden Nicht-Ungarn vor schier unüberwindliche Hürden, allein schon in der Aussprache, stellt. Ein Buch für alle Ungarn-Liebhaber und solche, die es werden wollen.

Reaktionen

Die ZEIT, 19. Juli 2007

Nach Budapest, Puszta und Plattensee ist für den Durchschnittstouristen Schluss. Thomas Bauer hat mehr vom Land der Magyaren gesehen und viele abgelegene Orte Ungarns wie das Marzipanmuseum von Szentendre oder den Stelenpark bei Mohács besucht. Wo die Puszta den Himmel berührt lautet der Titel des munter und doch nachdenklich geschriebenen Reisebuchs. Auf Umwegen durchstreift der Autor zudem Geschichte und Politik, von den Raubzügen der Magyaren im 10. Jahrhundert bis zur Ankunft des Landes in der EU, er stellt Dichter und Erfinder vor und übt tapfer, Prost zu sagen: Egézségédre!

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